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Vom Forschungsdesiderat zum Lern- und Erinnerungsort – Das Notaufnahmelager Gießen

Prof. Dr. Jeannette van Laak

Die Geschichte von Flüchtlingslagern wie Uelzen, Friedland oder Gießen, die in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre verschiedene Personengruppen aufnahmen, um sie in den westlichen Besatzungszonen und der jungen Bundesrepublik anzusiedeln, blieb lange unerforscht. In den 1990er Jahren wurden zunächst die Gesetzmäßigkeiten für die Aufnahme von Zuwanderern untersucht, was meist im Zusammenhang mit der Erforschung der Aufnahme von Vertriebenen erfolgte. Für Gießen lag lange Zeit nur der Beitrag von Heinz Dörr aus dem Jahr 1996 vor, der vor allem die Entstehung des Lagers und seine Aufgaben in den 1980er Jahren skizzierte. Darin hatte der ehemalige Leiter der Einrichtung bereits darauf hingewiesen, dass die DDR-Bürger bis zur Wiedervereinigung hier aufgenommen wurden und dass Gießen damit eine besondere Rolle in den deutsch-deutschen Beziehungen einnahm. Umso überraschter war ich, als ich 2008 nach Gießen kam und feststellte, dass kaum jemand hierzu historisch arbeitete und dass in der Stadt selbst kaum etwas an diese Einrichtung erinnerte. Neugier begab ich mich zusammen mit den Studierenden der JLU Gießen auf Spurensuche vor Ort und in der Stadt.

Das NAL ist aus einem Flüchtlingslager der Nachkriegsjahre hervorgegangen. Dieses war im Februar 1946 eingerichtet worden, um die Vertriebenen aufzunehmen und auf die Dörfer und Gemeinden um Gießen zu verteilen. Lager als wohnähnliche Unterkünfte gehörten seit Kriegsende 1945 zu den alltäglichen Provisorien. Damit versuchten die Besatzungsmächte und die deutschen Verwaltungen sowohl einen Überblick über die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu behalten als auch diese unterzubringen. Hierbei wurde zum Teil auf schon bestehende Lager aus der NS-Zeit zurückgegriffen. Weil diese in Gießen von der amerikanischen Besatzungsmacht genutzt und verwaltet wurden, musste zur Aufnahme der Vertriebenen eine neue Lagerstruktur eingerichtet werden. Diese verteilte sich zunächst auf vier Gebäude in der zerstörten Stadt. Hierbei handelte es sich um das Hotel Lenz und das Hotel Kobel, um das Otto-Eger-Heim und um zwei alte Wehrmachtsbaracken am ehemaligen Viehmarkt.

Somit war das erste Lager zentral-dezentral in Bahnhofsnähe gelegen. Es diente erstens der Aufnahme und Registrierung, zweitens der Unterbringung und drittens der Versorgung der Flüchtlinge. 1949 erfolgte eine Zusammenlegung dieser Räumlichkeiten. Dabei wurde auf das Gelände am Viehmarkt zurückgegriffen. Die hier bestehenden ehemaligen Wehrmachtsbaracken wurden um weitere ergänzt. Das Regierungsdurchgangslager Gießen, wie es nun genannt wurde, befand sich damit „vor den Toren“ der Stadt.

Sowjetzonenflüchtlinge

Bis 1948 mussten vor allem vertriebene Deutsche aus Polen, Tschechien und Ungarn aufgenommen und in die hessischen Landkreise verteilt werden. Einen Teil dieser Vertriebenen hatte es zunächst in die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands verschlagen, wo sie aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht bleiben wollten. Manche wollten lieber in den westlichen Zonen wohnen, nicht zuletzt, weil sie die Russen noch immer als Feinde betrachteten. Da sie nun offiziell aus der SBZ kamen, wurden sie als „Sowjetzonenflüchtlinge“ bezeichnet. Ihr Anteil nahm stetig zu. Im Jahr 1949/50 waren es knapp 150.000 Personen. Das führte dazu, dass die Landesregierungen der amerikanischen und britischen Besatzungszonen Aufnahmekriterien formulierten, nach denen die Deutschen aus der SBZ aufgenommen werden sollten.

Das Notaufnahmegesetz vom August 1950

Nach Gründung der Bundesrepublik wurden im Notaufnahmegesetz (NAG) ebenfalls positive Kriterien formuliert, nach denen die Zuwanderer aus der SBZ/DDR aufgenommen werden sollten. Obgleich nur wenige Antragsteller zurückgeschickt wurden, mussten sie nachweisen, dass ihre Übersiedlung politisch motiviert und ihre Existenzgrundlage gefährdet war, dass ihnen „Gefahr für Leib und Leben“ drohte. Denn bereits damals lag es in der Verantwortung der Landesregierungen, den Zustrom zu begrenzen. Zuwanderer sollten nur zur Not aufgenommen werden, weil es noch immer nicht genügend Arbeit und Wohnraum für die eigene Bevölkerung gab. Außerdem bestand die Sorge, dass das Gebiet der sowjetischen Besatzungszone irgendwann unbewohnt sei, wenn sich immer mehr SBZ-Bewohner auf den Weg in den Westen machten. In der Namensgebung spiegelt sich also nicht die Not der Zuwanderer, sondern die der jungen Bundesrepublik.

Das Notaufnahmegesetz vom August 1950 war eines der ersten Gesetze der Bundesregierung. Es regelte außerdem die Verantwortung für die Aufnahme und Unterbringung der Zuwanderer. Infolgedessen waren fortan vier Akteure in den drei zentralen Aufnahmelagern Uelzen, Gießen und Berlin-Marienfelde tätig. Hierbei handelte es sich erstens um das jeweils zuständige Bundesministerium, zweitens um die Geheimdienste, drittens um das Land Hessen und viertens um die karitativen Verbände. Das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (BMVt) hatte die Aufsichtspflicht für das Notaufnahmeverfahren. 1951 wurde in jedem Lager eine nach dem Gesetz benannte Dienststelle eingerichtet, die das Aufnahmeverfahren vor Ort durchführte. Zu ihren Aufgaben gehörte es, die Zuwanderer entsprechend der Gesetzeslage zu registrieren, das Verfahren durchzuführen, die Aufnahmeakte zu pflegen und diese nach Abschluss des Verfahrens zu archivieren. Nach der Auflösung des BMVt 1969 übernahm das Bundesinnenministerium diese Aufgaben.

Ein zweiter Akteur waren die westlichen Geheimdienste, von denen beispielsweise der Counter Intelligence Service(CIS), der Military Intelligence Service(MIS), die Military Intelligence Group (MIG), der BND, der MAD und der Verfassungsschutz unabhängig voneinander in den Lagern tätig waren. Die Befragungen der Geheimdienste im Lager fanden in einer juristischen Grauzone statt, waren sie doch im gleichnamigen Gesetz weder formal berücksichtigt noch überhaupt erwähnt worden. Für die Dienste ergab sich ihre Tätigkeit aus dem Bedürfnis nach innerer Sicherheit und Information. Um eine gewisse Transparenz im Ablauf zu gewährleisten, wurden die westlichen Dienste auf den Laufzetteln der Einrichtungen vermerkt. Außerdem wurde den Zuwanderern eine Bescheinigung vorgelegt, die sie über die Freiwilligkeit der geheimdienstlichen Befragungen aufklärte.

Die Lagerverwaltung war ein weiterer Akteur. Sie unterstand der hessischen Landesregierung. Im Notaufnahmegesetz war festgelegt worden, dass der Bund die Länder mit der Bereitstellung der entsprechenden Infrastruktur für die Aufnahme der Übersiedler beauftragt. Die Verantwortung und Verwaltungsaufsicht für die Lagerverwaltung wechselte mehrmals zwischen dem hessischen Sozial- und Innenministerium. Zu den Aufgaben des Landes Hessens gehörte es, sowohl Büroräume für die verschiedenen Dienststellen als auch Unterbringungs- und Versorgungseinrichtungen für die Übersiedler, wie Schlafräume, Küche, Speisesaal, sanitäre Anlagen, Krankenstuben bereitzustellen. Damit war die offizielle Zuständigkeit für die Aufnahme von Übersiedlern zwischen Bund und den Ländern aufgeteilt.

Die verschiedenen karitativen Verbände bildeten die vierte im Lager tätige Akteursgruppe. Sie versorgten die Flüchtlinge und Zuwanderer mit Kleidung, mit weiterführenden Informationen und leisteten, wenn möglich, auch finanzielle Unterstützung.

Die Abgelehnten

Bis Mitte der 1950er Jahren war die Ablehnungsquote von Zuwanderern verhältnismäßig hoch. Erst das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1953 führte dazu, dass immer mehr Zuwanderer nach dem NAG bleiben konnten. Fortan reichte es aus, wenn sie nachweisen konnten, dass sie für ihren Lebensunterhalt selbst aufkamen. In den ersten Nachkriegsjahren war es immer wieder zu Rückführungen der Abgelehnten gekommen. Als die Bundesbehörden registrierten, dass die Abgelehnten in der SBZ/DDR als westliche Spitzel und Spione verfolgt wurden, nahm man hiervon Abstand. Auch das Grundgesetz verbot eine solche Rückführung, wurden doch die Deutschen in der SBZ/DDR ebenfalls als Bundesbürger betrachtet, denen man das Recht auf Freizügigkeit nach dem Grundgesetz gewähren wollte.   

Das NAL Gießen und seine Aufgaben

Nach der Verabschiedung des NAG existierten drei Lager in der Bundesrepublik bzw. in West-Berlin, die Zuwanderer aus der SBZ/DDR aufnahmen. Hierbei handelte es sich um das Notaufnahmelager im niedersächsischen Uelzen in der ehemaligen britischen Besatzungszone, um das NAL Berlin-Marienfelde und um das NAL Gießen in der ehemaligen US-Zone. Gießen war damals das kleinste der drei Lager. In den 1950er Jahren wurden zudem eine Reihe von Jugendlagern betrieben, die jugendliche Übersiedler bis 24 Jahre eine Zeitlang beherbergten. Hierbei handelte es sich um eine Einrichtung in Krofdorf und um das Haus Elisabeth für junge alleinstehende Frauen in Gießen. Anfang der 1950er Jahre beschloss die hessische Landesregierung, das Barackenlager zu modernisieren. Dies wurde mit den ungenügenden Arbeitsbedingungen für das hier tätige Personal begründet. Zwischen 1955 und 1957 kam es zu einer ersten Modernisierung. Ein Teil der Baracken wurde durch einfache schmucklose dreistöckige Gebäude ersetzt. Anfang der 1960er Jahre wurde eine weitere Umbauphase eingeleitet, die den Bau eines fünfgeschossigen Verwaltungsbaus, eine moderne Küche sowie eine neue Krankenstation vorsah. Wenngleich der Mauerbau den Zustrom von Zuwanderern aus der DDR jäh unterbrach, hielt die hessische Landesregierung an diesen Plänen fest. Da in Uelzen mit einer Modernisierung noch nicht begonnen worden war, gab es nach dem Mauerbau vom 13. August 1961 zwei moderne Aufnahmeeinrichtungen für Übersiedler aus der DDR: Berlin-Marienfelde und Gießen. Da sich ersteres nicht auf dem Bundesgebiet befand, fiel im März 1962 die Entscheidung, dass die Einrichtung in Gießen erhalten bleiben sollte. Nach Abschluss der zweiten Umbauphase verfügte das Lager Gießen über moderne Büros, in denen die Verwaltungsarbeit der Aufnahmeverfahren geleistet werden konnte.

Nachdem die Bundesregierung mit der DDR-Führung den Freikauf von politischen Häftlingen arrangiert hatte, wurde Gießen zu einem ersten Anlaufpunkt für die meisten der Freigekauften. Insgesamt gab 850 Aufnahmeplätze für Zuwanderer aus der DDR. Diese waren in der Mehrzahl in den Jahren zwischen 1961 und 1981 jedoch kaum oder nur unzureichend belegt. Selbst das Archiv mit den Aufnahmeakten aus den drei Aufnahmelagers benötigte nicht so viel Platz.

Das führte dazu, dass die Gebäude in dieser Zeit von städtischen Einrichtungen wie der Stadtverwaltung oder der Universität mitbenutzt wurden. So war hier einige Jahre die Polizei der Stadt Gießen untergebracht. Die Universität nutzte einen der Unterkunftsblocks als Studentenwohnheim. In den frühen 1980er Jahren wurde zudem eine Schule für Aussiedlerkinder eingerichtet, die hier Deutsch lernen konnten.

1983 erfolgte eine Umbenennung, in Zentrale Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR in Hessen (ZEAH).  In den folgenden Jahren entließ die DDR-Führung immer wieder schubweise eine große Zahl an Ausreisewilligen. Dann hatten die Mitarbeiter in der ZEAH alle Hände voll zu tun, eine reibungslose Aufnahme und Weiterleitung der Übersiedler zu organisieren. Im Nachhinein kann das als Probehandeln verstanden werden. Denn die Zahl der Zuwanderer stieg ab 1988 erneut stetig an, und erreichte im Sommer 1989 einen ersten Höhepunkt, als Ungarn begann, den Grenzzaun zu Österreich zu demontieren. Einen weiteren Höhepunkt stellte der 9. November 1989 dar. Viele Ausreisewillige fürchteten, dass die Grenzen nur vorübergehend geöffnet wurden und machten sich auf den Weg nach Gießen, um hier den Aufnahmeantrag in die Bundesrepublik zu stellen. Nach der ersten freien Wahl zur Volkskammer der DDR, im Frühjahr 1990, und dem Plan, der Bundesrepublik Deutschland beizutreten, wurde im Bundestag entschieden, das Notaufnahmegesetz mit der Währungsunion am 1. Juli 1990 aufzuheben. Das bedeutete, dass auch die ZEAH am 30. Juni 1990 offiziell aufgelöst wurde.  

Anfang der 1990er Jahre dann wurden die Gebäude der ehemaligen ZEAH für die Aufnahme von Spätaussiedlern in Hessen genutzt. Die Erforschung der Geschichte des NAL begann im Jahr 2012. Hierfür wurden die Hessischen Staatsarchive in Darmstadt, Wiesbaden und Marburg ebenso aufgesucht wie das Stadtarchiv Gießen. Bis 2015 besuchte ich immer wieder mit Studenten die Einrichtung. Für sie war damals ein Besuch der Gebäude am Meisenbornweg stets eindrucksvoll. Mit ebenso großer Neugier interviewten sie ehemalige DDR-Bürger, die auf ihrem Weg in die Bundesrepublik hier Station gemacht hatten, um die Aufnahme offiziell zu erhalten. Nachdem die HEAH 2016 am Rödgener Weg ein neues Domizil gefunden hat, entschied sich das Land Hessen, in den Gebäuden des einstigen Aufnahmelagers einen Lern- und Erinnerungsort zur deutsch-deutschen Geschichte umzuwidmen, womit sich der Kreis zu den 2010er Jahren schließt, als mit der Erforschung dieser Geschichte an der JLU Gießen selbst begonnen wurde.

Bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung sind unter anderem folgende Publikationen zum Thema erhältlich: