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Filmprojekt „Über unsere Schwellen hinaus“. Wie denken junge Tschechen und Deutsche über ihre gemeinsame Geschichte

Die beiden Autoren des Films, Wolfgang Spielvogel und Rainer Brumme, haben mit dem hier vorzustellenden Film die Erinnerungsarbeit an die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der damaligen Tschechoslowakei in besonderer Weise weitergedacht sie zeigen neue und zukunftsweisende Wege für die Arbeit an diesem Thema auf.

Das Bild, das Nachbarn voneinander haben, ist immer sowohl von Kenntnissen aber auch von Vorurteilen geprägt. Das gilt auch für das Verhältnis von Tschechen und Deutschen. In ihrem Dokumentarfilm untersuchen Wolfgang Spielvogel und Rainer Brumme dieses Bild gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern der Karl-Rehbein-Schule (Hanau), der American Academy Brno (Brünn), ihren Lehrern Markus Harzer und Pavel Novak, sowie Zeitzeugen und Wissenschaftlern aus beiden Ländern. Von November 2021 bis Mai 2022 haben die Filmemacher ein Projekt begleitet, das sie mit den beiden Lehrern Markus Harzer aus Hanau und Pavel Novak aus Brno initiierten. Sie wollten zeigen, wie Jugendliche heute an das Thema Vertreibung herangehen und es aufarbeiten.

Die beiden Schulklassen wurden im Vorfeld zu den geschichtlichen Fakten unterrichtet und reagierten recht unterschiedlich. So konfrontieren die ersten Szenen die Zuschauer auch mit einer sehr differenzierten Handlungsfolge. Es ist ein Dokumentarfilm in offenem Format, der zunächst mehr Anlässe für Fragen zu bieten scheint, weniger eine scheinbare Objektivität vorgefaßter Auffassungen.

Der Film zeigt keine „Wahrheiten“. Das Einbinden von Zeitzeugen und das gegenseitige Kennenlernen der Schülerinnen und Schüler aus den beiden Ländern haben ganz offenbar zu einer Vertiefung der gegenseitigen Beziehungen und zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Thematik geführt. Einige Schülerinnen und Schüler entdeckten bei Nachforschungen z.B. Sudetendeutsche in ihrer eigenen Ahnenreihe.

Als Einstieg in das Thema haben die Filmemacher die Lektüre des Romans „Die ersten Schritte“ („Nástup“) von Václav Řezáč aus dem Jahr 1951 ausgewählt, der aus damaliger Sicht die Vertreibung der Deutschen rechtfertigt. Der Roman spielt zwischen Mai und November 1945 im nordböhmischen Grenzgebiet und beschreibt die dort stattfindenden Umwälzungen, die der Leser aus der Perspektive des tschechischen Kommunisten Jiří Bagár mitverfolgt. Dieser ist Vorsitzender der Verwaltungskommission für die sudetendeutsche Stadt Grünbach (später Potočná).

In dieser Funktion wird er mit einer Reihe von Problemen konfrontiert, welche die Kolonialisierung des Grenzgebietes mit sich bringt. Der Autor des Romans kannte diese Probleme aus eigener Anschauung: Er hatte etliche Reisen in die Gegend von Kadaň / Kaaden unternommen und als Berater des damaligen Kultur- und Informationsministers Václav Kopecký, der zu den einflußreichsten kommunistischen Politikern seiner Zeit gehörte, einen Bericht über die Situation im Sudetenland verfaßt. Dieser Bericht wurde als Richtlinie für die Arbeit des Staatsapparats herangezogen. Insofern könnte man sagen, daß Řezáč im weitesten Sinne den Umbruch auch selbst mitgestaltete.

Die Personen des Romans decken das gesamte gesellschaftliche Spektrum ab, wobei klar zwischen positiven und negativen Figuren unterschieden wird. Während bei den Tschechen beide Typen vorkommen und die Russen, Angehörige der Roten Armee, ausnahmslos positiv dargestellt sind, werden fast alle Deutschen negativ typisiert. Als dominante deutsche Eigenschaften werden im Roman Fanatismus und Gewaltbereitschaft sowie Gehorsam und Autoritätsglaube transportiert.

Über die drohende Aussiedlung wird im Roman auf zwei sprachlich-stilistischen Ebenen gesprochen: Der kommunistische Erzähler und die übrigen positiv besetzten tschechischen Figuren verwenden relativ sachliche Bezeichnungen wie „aussiedeln“, „Aussiedlung“, „abschieben“ oder als „Abtransport der Deutschen“. Das Wort „Vertreibung“ kommt hier nicht vor!

Da „Nástup“ noch vor der planmäßigen Aussiedlung der Deutschen spielt, die bekanntlich erst im Jahr 1946 stattfand, sind Zweifel und Unsicherheit auf beiden Seiten der Bevölkerung ein wiederkehrendes Motiv, sie werden aber unter Hinweis auf die Beschlüsse von Potsdam ausgeräumt. Ein zentrales Anliegen des Romans ist dennoch die Frage nach der Legitimation der Aussiedlung. Weiter wird auch die buchstäblich herrschende Goldgräberstimmung im Sudetenland thematisiert.

„Nástup“ weist zweifellos trivialliterarische Qualitäten auf. Seit seinem Erscheinen 1951 erfuhr dieser Roman über fünfzehn Neuauflagen und stand als politisch erwünscht bis in die 1980er Jahre auf vielen Pflichtlektürelisten in tschechischen Schulen. Der Inhalt des Buches wird hier sehr viel breiter referiert als es im Dokumentarfilm selbst der Fall ist bzw. sein kann. Diese Erläuterungen dienen vor allem der Information über den Hintergrund, der einem breiteren Publikum nicht sofort bekannt ist.

Buch und Regie

  • Rainer Brumme und Wolfgang Spielvogel

Kamera (Tschechien)

  • Jan Hubáček

Kameraassistentinnen (Tschechien)

  • Sára Ferancová
  • Anna Šimůnková

Kamera (Deutschland)

  • Timo Schlenstedt
  • Tim Möhring
  • Marko Fediv

Ton (Tschechien)

  • Petr Kačírek

Ton (Deutschland)

  • Anton Kraus
  • Raphael Foidl
  • Marvin Menné
  • Johanna Spahn

Tonmischung

  • Alexander Bös

Pädagogische Leitung

  • Markus Harzer
  • Pavel Novák

Sprachanimation

  • Kristýna Šoukalová

Dolmetscher

  • Michal Urban
  • Zdeněk Mareček

Simultandolmetscherinnen

  • Milada Vlachová
  • Lenka Martinková  

Musik

  • Andi Kerl

Editor

  • Rainer Brumme

Grafik

  • Martin Brauner 

Produktion

  • main-movie filmproduktion rainer brumme

Gefördert durch

  • Deutsch-Tschechischer Zukunftsfonds
  • Landesbeauftragte der Hessischen Landesregierung für Heimatvertriebene und Spätaussiedler beim Hessischen Minister des Innern und für Sport
  • Sudetendeutsche Landsmannschaft Landesgruppe Hessen
  • Hanns-Seidel-Stiftung
  • Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien über den Kulturreferenten für die böhmischen Länder im Adalbert-Stifter-Verein
  • Stadt Hanau

Mit Unterstützung

  • Bildungsstätte Heiligenhof, Bad Kissingen
  • Altes Gefängnis „An der Zeile“, Brünn
  • Tandem - Koordinierungszentrum Deutsch-Tschechischer Jugendaustausch
  • Hessische Landeszentrale für politische Bildung
  • Nationales Filmarchiv, Prag
  • Das Bundesarchiv, Berlin

Übersetzungen

  • Pavel Novák,
  • Helena Päßler,
  • Max Reh und
  • Michal Urban

Unser Dank gilt den Schülerinnen und Schülern der Karl Rehbein Schule in Hanau und der American Academy in Brno

  • Felix Schneider
  • Sophie Thoma
  • Alina Wendt
  • Lina Schnarr
  • Beyza Sivaci
  • Mariya Andryushina
  • Oliver Jahn
  • Ben Phillip Nees
  • Jessica Stremel
  • Lara Özer
  • Aneta Hořická
  • Klára Bartošová
  • Laura Vávrová
  • Klára Hejlíková
  • Daniela Suchánková
  • Karolína Dennerová
  • Josef Kyselka
  • Jakub Třeška
  • Maxim Zelinka

Unser Dank gilt auch

  • David Kovařík, Historiker
  • Sarah Scholl-Schneider, Kulturanthropologin
  • Zbyněk Rederer, Museumsführer
  • Ulrich Rühmenapp, Bildungsmanager im Heiligenhof
  • Gustav Binder, Studienleiter im Heiligenhof

Besonderer Dank an die Zeitzeugen

  • Alfred Arndt 
  • Edith Breindlová
  • Kitty Galdová
  • Annemarie Heilmann
  • Zdeněk Mareček
  • Helena Päßler
  • Georg Pohler †

Copyright © 2023 main-movie filmproduktion rainer brumme, Offenbach. Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte sind vorbehalten. Dieses Video ist nur für den privaten Gebrauch bestimmt. Für alle Verwendungen, insbesondere Vorführung, Sendung, Bearbeitung und Vervielfältigung bedarf es einer speziellen Bewilligung. Zuwiderhandlungen werden zivil- und strafrechtlich verfolgt.

Das vorgelegte Werk ist kein Dokumentarfilm über die Vertreibung an sich. Er ist der sehr gelungene Versuch, junge Menschen, die von diesem Kapitel der Vergangenheit völlig unbelastet sind und dennoch immer mit dieser leben müssen, in ein Gespräch miteinander zu bringen, was genau diese Vergangenheit in den Mittelpunkt rückt. Das zeigt sich in den Gesprächen.

Die Rechtfertigung der Vertreibung der Deutschen wird von den Jugendlichen hinterfragt, und in der persönlichen Begegnung ansatzweise überwunden. Die Thematisierung einer Revision der Ereignisse stellt sich gleichzeitig nicht. Die historischen Ereignisse werden wahrgenommen, durchdacht und ihre Folgen, vor allem für die betroffenen Menschen sehr feinfühlig erwogen. An keiner Stelle, auch nicht im noch zur Verfügung stehenden Rohmaterial, wird die Frage nach einer Revision aufgeworfen. Die jungen Menschen leben im Hier und Jetzt, sind sich der Vergangenheit bewußt und denken in die Zukunft hinein.

Der Film kommt ohne jeden begleitenden Kommentar aus, er erklärt sich aus den gezeigten Gesprächen der Schulklassen untereinander und miteinander, aus sparsam eingeschnittenen Szenen einer Verfilmung des Romans und aus der Kraft der Bilder, welche die Schülerinnen und Schüler bei der Arbeit an diesem Projekt zeigen. Das ist einerseits anstrengend, andererseits bietet sich dem Zuschauer auf diese Weise die Möglichkeit, sich eine eigene Auffassung zu bilden, ganz im klassischen Sinn der politischen Bildung. Der Film kommt auch ohne jede Form der in anderen Dokumentation oft eingeschnittenen Szenen aus Wochenschauen oder gleichartigen Dokumentationen aus. Die erwähnten Spielfilmszenen werden zur Illustration genutzt und reichen aus.

Die Wahrnehmung des Zuschauers wird dabei auf das Wesentliche konzentriert und eröffnet eine Möglichkeit der Wahrnehmung und Erkenntnis, die den Film einzigartig macht. Der Film behandelt ein schwieriges und für noch lebende Zeitzeugen beider Länder sehr schmerzliches Thema. Er kommt dabei ohne Pädagogik aus und ist aus sich heraus gleichzeitig äußerst lehr- und erkenntnisreich. Er richtet sich vor allem an junge Menschen, nicht so sehr an die Erlebnis-Generation. Das ist der richtige Weg. Das Thema der Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ist zunehmend ein Bildungsthema geworden, das nicht in Vergessenheit geraten darf. Der Film trägt in hervorragender Weise dazu bei, die sehr komplexe und schmerzliche Erinnerungsarbeit über die Grenzen von Verbänden oder des Kreises der weniger werdenden Zeitzeugen hinaus mitten in das Bewußtsein junger Menschen zu tragen.

Wir erleben immer wieder das Engagement junger Leute für Menschen, die auf der Flucht sind und aus den unterschiedlichsten Regionen dieser Welt kommen. Mit dem vorliegenden Werk ist nicht nur den Schülerinnen und Schülern Menschen, die bei der Erstellung mitgewirkt haben, deutlich zu machen, daß Flucht und Vertreibung Themen sind, die sehr wohl die eigene Herkunft und Vergangenheit betreffen können. Hierfür ein Bewußtsein zu schaffen und ein Thema im Gedächtnis zu halten, ist eines der vielen Verdienste dieses Films.

Die Hessische Landeszentrale für politische Bildung hat eine Lizenz angekauft, um den Film über ihre Internetseite der politischen Bildungsarbeit zugänglich zu machen. Die Abrufbarkeit soll es Schulklassen, Verbandsgruppen und allen am Thema interessierten Personen ermöglichen, das Werk für die eigene Arbeit zu nutzen.

Für Rückfragen zum Film und den Texten wenden Sie sich bitte an das zuständige Referat I/3 (referat-I-3@hlz.hessen.de). 

Gez.

Achim Güssgen-Ackva
Ständiger Vertreter des Direktors

Das wandernde Bewusstsein junger Menschen

Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms “Über unsere Schwellen hinaus” von Rainer Brumme und Wolfgang Spielvogel

Thema des Films ist das zum Teil immer noch mehr von Vorurteilen als von realem Wissen geprägte Bild, das Tschechen und Deutsche von einander haben. Gedreht wurde ein gutes Jahr lang (2022) mit Jugendlichen beider Länder in Brünn, Bad Kissingen und Hanau.

Charakteristisch für diesen Film ist sein offenes Format, das mehr Anlass für Fragen bietet, und weniger eine scheinbare Objektivität vorgefasster Auffassungen zu zelebrieren versucht. will sagen: „Wahrheiten“, bis hin zur Propaganda.

Dies muß nicht zuletzt deshalb als gelungen gesehen werden, weil – wie in vielen Gesprächen nach den Premieren in Brünn/Brno und Hanau immer wieder positiv angemerkt wurde - die Ansichten der Zuschauer nicht einfach „bestätigt“ wurden, sondern der Wissenszuwachs, aber auch das Noch-Nicht-Wissen, also das wandernde Bewusstsein der jungen Menschen als Prozess durch eine scheinbar fließende Filmstruktur abgebildet wurde.

Keine Zeigefinger, keine Pädagogik, sondern etwas wie „Sympathie“ entstand da gegenüber dem Suchprozess und seinen Akteuren, den Schülern, und auch den behutsamen Machern des Films und ihrer Kameraführung. Einig waren sich alle, die am Gespräch beteiligt waren, daß der Film sich eher an junge Menschen als an die Erlebnis-Generation richtet. In diesem Sinne wurde auch das Interesse der Landeszentrale für politische Bildung Hessen an der Vermarktung dieses Dokumentarfilms sehr begrüßt.